Warum wir alle mehr über unsere Körpermitte sprechen sollten

23. Aug 2022 | 4 Kommentare

Scham macht einsam. Gepaart mit Hilflosigkeit entsteht ein ganz neuer Höllenkreis.

Wenn Deine Körpermitte Dich im Stich lässt…

Der erste Moment, in dem mir nicht nur das Herz in die Hose rutschte und an den ich mich bewusst erinnere, war meine eigene Hochzeit. Ich stand auf der Tanzfläche, erfreute mich eines Jives, hüpfte ausgelassen und dann war die Hose nass.

Mit meinem Wissen von heute, frage ich mich ernsthaft, wie mich das nicht schon nachdrücklich auf die Suche nach Antworten hatte gehen lassen. Zu dem Zeitpunkt rannte ich auch bereits seit 4,5 Monaten mit Dauerschmerzen im Schritt herum, konnte nur schräg auf einer Pobacke sitzen.

Aber beim Check-up war mir gesagt worden, dass alles normal aussähe.

Einige Monate später war ich auf einem Spaziergang mit einer anderen Mutter mit ihrem gleichaltrigen Kind unterwegs. Irgendwann musste ich dringend. Wir standen gerade vor einem Café, sie meinte, sie passe auf die Kinder auf, ich solle doch schnell dort hineingehen. Tat ich.

Ich fragte freundlich, ob ich – es sei ein Notfall – eben bitte schnell ihre Toilette benutzen dürfe. Nein, das machen wir nicht mehr! Schoss es mir scharf entgegen. Ich betonte erneut, dass es ein wirklich dringlicher Notfall sei und merkte, wie mir bereits die Tränen in die Augen stiegen.

Nein, wir wurden beklaut und es wurde Vandalismus betrieben, Toiletten nur noch für Gäste! Der Tonfall wurde noch schärfer und kälter. Mir zitterte nicht nur die Stimme, mein Unterleib krampfte schmerzhaft und ich konnte nur noch mühsam die Contenance bewahren. Es ist wirklich dringend, ich bin seit der Geburt meines Kindes inkontinent und mache hier gleich in die Hosen. Ich müsste wirklich dringend Ihre Toilette benutzen?

Ich wollte im Boden versinken.

Na gut! Dann gehen Sie halt. Lautstark, kalt und abfällig wurde mir die Antwort entgegengeschleudert. Ich ging so schnell ich konnte die Treppe hinunter, vorsichtig darauf bedacht jede Erschütterung zu vermeiden, um den Weg zu meinem Ziel nicht obsolet werden zu lassen.

Endlich angekommen, brachen alle Dämme, unten wie oben. Ich war keine Sekunde zu früh. Ich schluchzte hemmungslos ob der Demütigung, die ich soeben erlebt hatte, die sich mit den immer noch dauerhaft präsenten Schmerzen vermischte.

Es war für lange Zeit das letzte Mal, dass ich mich zum Spazierengehen verabredete.

Der Kontakt zu der anderen Mutter, der einzigen, mit der ich überhaupt Kontakt hatte, versandete daraufhin.

Es dauerte noch über ein Jahr, bis ich genug Energie gesammelt hatte, um gezielter nach Hilfe zu suchen.

Es brauchte noch zwei Jahre, bis ich begann, nachhaltige Antworten zu finden.

Was ich seit dem unter anderem auf meinem Weg gelernt habe:

  • Ich bin mit diesen (oder ähnlichen) Erfahrungen und Gefühlen nicht allein.
  • Es braucht keine Geburtsverletzungen oder andere Extreme, um mit solch unangenehmen Situationen konfrontiert zu werden.
  • Unglaublich viele Frauen haben mit irgendeiner Form von Inkontinenz, Organsenkungen oder anderen Beschwerden der Körpermitte zu kämpfen.
  • Insbesondere ab Mitte 40 scheinen sich viele Frauen damit abzugeben, dass sie sich vollkommen instabil in ihrer Mitte fühlen, obwohl sie stark darunter leiden.
  • Den meisten wurde nämlich suggeriert, dass das alles normal sei, wenn man Geburten hinter sich habe oder auch einfach nur älter wird, selbst ohne je schwanger gewesen zu sein.
  • In den meisten Fällen kann man viel mehr Besserung erlangen, als man ahnt.
  • Es ist nie zu spät, mit dem Training anzufangen und wieder Stabilität in der Körpermitte zu erlangen.
  • Viele wissen nicht, mit wem sie reden sollen, weil niemand darüber redet.

Darum sollten wir alle mehr über unsere Körpermitte reden!

Wenn Du reden möchtest, aber nicht weißt, mit wem, dann email mir und wir reden.

P.S. Auch Männer können Probleme mit ihrem Beckenboden und der Körpermitte haben. Das kann sich unter anderem in erektiler Dysfunktion oder Schmerzen bei Erregung zeigen.

P.P.S. Die Dame im Café hätte mich anstandslos auf die Toilette gehen lassen müssen. Es ist illegal, das zu verweigern. Das wusste ich damals nicht. Heute würde ich sehr laut eine entsprechende Ansage machen. Ich schäme mich nicht mehr!


Anmerkung: Dieser Artikel ist an Tag 3 der Sommer-Blogdekade 2022 entstanden. Vom 21.08. bis 30.08.2022 schreiben viele Bloggerinnen in TheContentSociety innerhalb von zehn Tagen bis zu zehn Blogartikel. Es ist meine erste Blogdekade, und ich bin neugierig, wie viele Artikel ich tatsächlich in dieser Zeit erstellen kenn, ohne mich von meinem inneren Perfektionisten ausbremsen zu lassen.

4 Kommentare

  1. Liebe Aimée, danke für diese persönliche Geschichte! Da werde ich ja heute noch stellvertretend wütend für dich.

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    • Danke, liebe Djuke! Heute werde ich auch wütend, wenn ich daran denke, es treibt mich an. Damals fühlte ich mich hilf- und machtlos und sehr beschämt.

      Antworten
  2. Liebe Aimée,
    danke für deine Offenheit! Ein wichtiges Thema und ich bin froh, dass ich in der Rückbildung eine tolle Hebamme hatte, die da sehr offen war. Gleichzeitig zeigt es wieder, wie Beschwerden nach der Geburt nicht ernst genommen werden (Kind ist ja da – wen interessiert da noch die Gesundheit der Mutter?)

    Antworten
    • Liebe Martina,
      ja, gute Betreuung ist goldwert! Ich bin in den Zeitabläufen in meiner Erinnerung mittlerweile etwas schwammig, aber mir war zu lange nicht so richtig klar, was “normal” ist und was nicht. Ich weiß nicht mal, ob meine Hebamme ahnte, wie es mir ging. Und ich konnte zu lange nicht um Hilfe bitten. Und ja, die erste Prio war bei allen sonst immer, wie es dem Kind geht.

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